Frauen in der Streetfotografie: Zeigt Euch!


Pia Parolin, 03.11.2021

Ich war neulich auf der Photopia und dem German Street Fotografie Festival in Hamburg. Verteilt auf zwei Hallen gab es tolle Events, inspirierende Vorträge, jede Menge Networking und Spaß zwischen kreativ gestapelten Containern, Bühnen, Ausstellern und gemütlichen Sitzgelegenheiten mit gut durchdachten Lichteffekten.

Doch wo waren die Frauen? Auf welcher Bühne, in welcher Präsentation? Immerhin hatte eine Frau die Schirmherrschaft inne: Ellen von Unwerth. Großartig, dass eine prominente, charismatische Frau, die spektakuläre Bilder macht, als Key Speakerin eingesetzt wurde. Insgesamt stellten Frauen auf der Messe jedoch eine Minderheit dar.

Ein paar Zahlen (Stand 03.11.2021)
Als begeisterte Wissenschaftlerin berufe ich mich gerne auf Zahlen, denn sie sprechen eine klare Sprache. Ich habe sie gezählt. Nicht die Fotografinnen in großen Ausstellungen und wichtigen Museen. Das sind langfristige und oft politisch gefärbte Entscheidungen. Nein, ich zählte sie einfach hier auf der Photopia und in der Streetfotografie. Ich habe auf den diversen Websites und Flyern nachgeschaut, auf den Bühnen und in den Namenslisten. Das Ergebnis ist beeindruckend, wenngleich nicht wirklich erstaunlich.

In den vier Tagen sprachen auf der großen Photopia-Bühne laut Programm 7 Frauen und 18 Männer. Auf der zweiten großen Photopia-Bühne, der Speaker Container Stage, sprachen 5 Frauen und 17 Männer. Noch trauriger wird es bei den sogenannten Key Playern der Photopia 2021, wie sie auf der Website zu finden sind: 2 Frauen und 18 Männer. Die Imaging Executives der Photopia setzten sich aus 1 Frau und 13 Männern zusammen.

3:0 stand es auf der großen Bühne für das German Street Photography Festival. Drei Männer auf der großen Bühne und keine Frau… Es sind wunderbare, kreative, sensible Männer, die sich des Problems des Frauenmangels bewusst sind, die ich niemals als diskriminierend oder auch nur im Ansatz als dominant oder gar frauenfeindlich erlebt habe. Aber Fakt ist: Es standen drei „white men“ auf der großen Bühne (sorry Marco, Martin und Siegfried, nehmt es nicht persönlich, I love you all). Es gab noch eine kleine Bühne auf der GSPF-Fläche. Diese öffnete sich auch für mich, ich hielt als einzige Frau drei Vorträge und sah im Publikum viele Frauen, jedoch weitaus mehr Männer.Auch auf der Creative Content Conference war ich als Sprecherin geladen. Als eine von 18 Frauen gegenüber 62 (!) Männern , die in den vier Tagen auf den drei Bühnen zu Gast waren. Bei Meister Camera auf dem Street Photo Day, der im Rahmen der Photopia stattfand, hielt ich einen von drei Vorträgen. Auch hier standen 3 Männer auf der Bühne und nur ich als einzige Frau.

Creative Content Conference auf der Photopia 2021 mit viel coronafreiem Raum zwischen den Stühlen.

Wenn ich über den Tellerrand der Photopia schaue, zum Beispiel in die kurz zuvor gegründete Gruppe meet n’street, komme ich auf insgesamt 53 Männer gegenüber 13 Frauen…
Das wurde schnell erkannt, und so bildete Britta Kohl-Boas – Mitglied des Streetcollective Hamburg und eine der 13 Frauen der Gruppe meet n’street – eine Foto-Frauen-Gruppe „Womeninstreet_Germany“ mit 13 Mitgliedern. Britta war auch als Botschafterin federführend im 24HourProject (https://24hourproject.org/) am 24.07.2021, bei dem für 24 Stunden die Menschheit in Bildern festgehalten und stündlich ein Foto auf sozialen Medien veröffentlicht wurde. Das Team bestand aus sieben Mitgliedern, davon fünf Frauen.

Ich lasse das Zählen jetzt. Ich könnte viele andere Listen zugrunde legen – Mitglieder in Street-Kollektiven und Streetguerrilla-Ausstellungen, veröffentlichte Artikel, Podcaster und Podcast-Interviews, Workshops, Mitglieder in Verbänden und Vereinen. Mein Eindruck ist, der Trend bleibt ähnlich, und es wäre spannend, das ausführlicher zu analysieren und über die kommenden Jahre zu beobachten. Vielmehr frage ich mich aufgrund der aufgelisteten Zahlen: Wir nehmen doch die Hälfte der Menschheit ein. Wo sind die Frauen in der (Street)Fotografie?

Wo sind die Frauen?

Woran liegt es, dass Frauen nicht so präsent sind? Ist es mangelndes Selbstvertrauen? Kai Behrmann stellte mir diese Fragen. Welche Strukturen und Verhaltensmuster haben dazu geführt, dass es so ist, und wie lässt sich das in Zukunft verhindern? Drückt sich die Diskrepanz auch bei den Bewerbungen um Mitgliedschaften und Auftritte aus? Gibt es Strukturen in den Verfahren, die es Frauen schwerer machen, einen Platz auf der großen Bühne zu erhalten? Findet eine (un)bewusste Diskriminierung statt? Oder sind wir schlicht in der Unterzahl und daher weniger sichtbar? Das alles böte Stoff für einen weiteren Artikel.

Brigitte Bohlscheid schreibt in ihrer Studienarbeit von 2017 zur Rolle der Frau in der Streetfotografie: „Die Streetfotografie im Allgemeinen findet sich in der Fachliteratur häufig wieder. Zumeist werden Techniken und mehr oder weniger bekannte Streetfotografen vorgestellt, sei es von den Anfängen dieses Genres mit Eugène Atget, Brassai oder Henri Cartier-Bresson bis hin zu Robert Doisneau, Bruce Gilden, Martin Parr, Steve Mc Curry, Garry Winogrand oder Eric Kim, Siegfried Hansen und Thomas Leuthard. Weibliche Straßenfotografen spielen in der Fachliteratur jedoch nur eine marginale Rolle. Es finden sich zwar Bücher und Abhandlungen über Diane Arbus, Helen Levitt und – natürlich – Vivian Maier, aber schätzungsweise mehr als 90 % der Fachliteratur beschäftigt sich mit männlichen Straßenfotografen.“ Doch die Zeit vergeht, und seit 2017 hat sich vieles bewegt. Immer wieder erlebe ich heute männliche Fotografen, die nach Fotografinnen suchen, um bewusst ihre reinen Männerriegen aufzusprengen. Ich sehe Frauen, die fotografieren, die in Gruppen und Kollektiven aktiv sind, die Vorträge halten und Preise gewinnen, die Jurys anleiten und in wichtigen Gremien sitzen. 

In der Streetfotografie sind immer mehr Kollektive nicht mehr wie anfänglich reine Männergruppen. Sie werden – oft bewusst – gemischter, und ich habe noch nie erlebt, dass Männer sich gegen die Anwesenheit von Frauen sperren würden, ganz im Gegenteil, wir werden gesucht! Vielleicht stehen die Türen für Frauen in der Streetfotografie sogar besonders weit offen, denn es geht hier nicht darum, sich zu profilieren, oder gar Aufträge zu erhaschen. In der Idealform der Streetfotografie geht es rein um das Fotografieren, um den Austausch und das kollektive Erlebnis. Somit empfinde ich die Streetfotografie als weniger von Kommerz geprägt als andere fotografische Branchen.Umso schöner ist es, dass das German Street Photography Festival auf der Photopia mit seinem coolen Stand, den inspirierenden Vorträgen und der Guerrilla-Ausstellung auf den Containerwänden in der Messehalle gut sichtbar war. Es vertrat nicht nur die Streetfotografie gebührend, sondern hat sich regelrecht als Botschafter der Straßenfotografie in Deutschland eingesetzt. Es gab viel spürbare Unterstützung und Anerkennung in einer Welt, in der diese Disziplin sonst oft nur marginal präsent ist. So wird sich die Streetfotografie weiterentwickeln und an Sichtbarkeit gewinnen. Jetzt müssen wir nur noch die Frauen ins Boot holen.

Bei Magnum Photos, der unabhängigen, internationalen Fotograf*innenagentur, die anerkanntermaßen die ganz Großen der Fotografie umfasst, werden inzwischen immer mehr großartige Streetfotografinnen aufgenommen. Zwar sind weniger Frauen als Männer auf der Webseite gelistet, doch der Anteil wird zunehmend größer, und im Schnitt werden die Mitglieder auch jünger.

Andrea Holzherr ist als deutsche Frau seit 2008 für das internationale Geschäft als globale Ausstellungsleiterin und Kuratorin für Magnum Photos in Paris tätig. Mit ihr verbrachte ich am Rande der Trieste Photo Days – einem weiteren wunderbaren Streetfotografie-Festival, bei dem ebenfalls weniger Frauen als Männer auf den Bühnen standen – ein fabelhaftes Abendessen mit interessanten Gesprächen. Sie untermauerte meine These, dass wir Frauen in der Fotografie zwar hinterherhinken, wenn es um Präsenz geht, doch insgesamt stark im Kommen sind. Und genau diese Perspektive möchte ich mit diesem Artikel nach vorne stellen.

Wir sind da, wir sind viele, wir sind gut, und wir müssen – auf Augenhöhe und mit einem großen Strahlen im Gesicht – einfach mitmischen, Spaß haben, aktiv sein. Es gibt keinen Grund, dass wir uns nicht trauen sollten, sichtbar zu werden. Nutzen wir die Gelegenheit, uns zu zeigen, mutig in neue Richtungen zu gehen, unsere Arbeiten auszustellen, uns einladen zu lassen, aktiv bei solchen Gelegenheiten wie Messen und Festivals mitzumachen, zu gestalten, die fotografische Welt zu formen und in neue Bahnen zu lenken, Entscheidungen zu treffen und gehört zu werden. Schließlich geht es um die Fotografie, und wie Britta Kohl-Boas sagt: „Ein gutes Foto ist ein Foto, das funktioniert“, egal aus welcher sexuellen Ausrichtung und Sozialisation der Fotografierende stammt.

Was tun?

Kopf hoch, Kamera in die Hand und raus. Wir haben Spaß am Fotografieren und sollten den Mut fassen, überall dabei zu sein, zu zeigen, was wir können.

Ich wurde aufgeweckt, als ich von der Nürnberger Fotografin Jutta Missbach dazu eingeladen wurde, in der Corona-Pandemie ein Projekt über das Leid von Künstlerinnen zu gestalten. Es ging dabei speziell um Frauen, die Foto-Kunst machen und in der Pandemie ganz besonders zurückgeworfen wurden. Auf meine Frage, was sie besonders belastet hätte, antworteten sehr viele einstimmig, es sei hart gewesen, ja, aber sie hätten das Beste daraus gemacht und es genossen, Zeit zu haben, um ein lang ersehntes Projekt durchzuführen. Viele haben ihre Sorgen durch ihre Kunst erleichtert und Kraft in der Kreativität geschöpft. Und damit einen kleinen Schritt weiter vollbracht in die Richtung, als Fotografinnen sichtbar zu werden. 

Frauen an die Macht

Wir haben den Ausbau unseres Einflusses und die Steigerung unserer Präsenz selbst in der Hand. Wir müssen unsere Stärken ausbauen und zeigen. Ich habe meinen Weg gefunden, und das nicht erst seitdem ich die 50 überschritten habe. Ich lasse mich persönlich schon lange nicht mehr davon beeindrucken, nur von Männern umgeben zu sein, weder in der Wissenschaftswelt noch in der Fotografie.

Ich weiß, dass ich nicht für alle Frauen stehe, aber ich gehe mit einem nonchalanten Lächeln über die oft unbewusste Arroganz hinweg, dass mir ein netter Herr meine Kamera erklären will. Ich bin allerdings die Art Frau, die es nicht als Erniedrigung empfindet, wenn mir ein Mann die Türe aufhält. Ich mag diese kleinen Spiele, sie passen in meine italienische Herkunft. Ein witziger Spruch, der gleichzeitig mein Fachwissen zeigt, wirkt Wunder. Empathie gewinnt. Und ich bin dem netten Herrn auch nicht böse, denn es gehört zu meiner Strategie um „unsichtbar“ zu werden, dass ich die ahnungslose Touristin spiele, die mit ihrer Kamera herumfummelt, um davon abzulenken, dass ich mit viel Fachwissen Menschen fotografiere.

Ich gehe geradlinig meinen Weg und lasse schädliche Kommentare wie von einem Lotusblatt abperlen. Ich mache mit Spaß mein Ding, entspannt und selbstverständlich. So konnte ich mir meinen Weg bahnen.

Auf die Bühne mit uns

Und so habe ich mich einfach zu den GSPF-Männern gesellt, habe Ihnen Vorträge angeboten, die sie liebend gerne angenommen haben. Es hat mich Überwindung gekostet, und ich war nervös, bevor ich die Bühne bestieg, aber es war bereichernd und hat Spaß gemacht.

Wir Frauen haben natürlich genau wie Männer diese innere Kraft, unsere Begeisterungsfähigkeit, und die sollten wir ungetrübt weitergeben. Aktiv zu sein und selbstverständlich auf einer Bühne zu stehen, bedeutet auch, dass wir durch unsere Präsenz andere Frauen motivieren: Es geht, es ist normal, und es macht Spaß.

Wir müssen weibliche Vorbilder sein oder suchen, unser Networking ausbauen und Einblicke in die Praxis gewähren. Damit können wir andere, auch jüngere Frauen für die Street-Fotowelt begeistern. Ich rufe hier bewusst zu mehr Mut, mehr Selbstverständlichkeit, mehr Aktivsein auf.

Frauen, zeigt euch, habt Spaß an der kreativen Fotografie und zeigt es allen Menschen, egal welchen Geschlechts, welcher Herkunft und welcher Motivation. Nicht nur Frauen, alle Menschen jeglicher Herkunft und Hautfarbe, sexueller Ausrichtung und jeden Alters, die sich durch das Establishment auf der Bühne nicht repräsentiert sehen, können es uns gleichtun, damit der Dialog auf Augenhöhe verläuft.

In der Fotografie geht es um Kreativität. Meine Art des Wiederstandes und des Kampfes ist subtil, rechts und links vorbei an den Hindernissen, nach vorne auf die Bühne.
Britta Kohl-Boas schrieb mir dazu: „Ich glaube, wir Frauen können in der heutigen Welt alles erreichen, wenn wir bereit sind, den zeitlichen Einsatz dafür zu bringen.“

Teilt eure Freude und eure Kreativität mit allen, und sie werden euch einladen. Oder seid selbst aktiv, tretet einem Kollektiv bei, wartet nicht, bis man euch fragt, sondern fragt selbst. Schreibt Artikel, stellt Fotoserien und Ausstellungen zusammen und sucht nach Möglichkeiten, sie zu zeigen. Organisiert Frauen-Guerilla-Ausstellungen und Frauen-Foto-Slams. Irgendwann werden die Männer uns bitten, mitmachen zu dürfen.

Wir können das tun, was die Streetfotografie ausmacht: die Straße vor der Haustür nutzen und mit der Kamera die Geschichten einfangen, die wir dort sehen. Schnappt Euch Eure Kameras (es darf auch ein Handy sein) und legt mit Spaß drauflos. Und wenn es in Gemeinschaft ist, umso besser.

Fotografie ist Kreativität, Teilen, voneinander lernen und miteinander aufbauen. Das schaffen wir alle zusammen.

Zitierte Werke
Brigitte Bohlscheid (2017): Die Rolle der Frau als Fotografin in der zeitgenössischen Streetfotografie. Studien-Arbeit SET School of Entertainment and Technology, Studiengang: Medienfotograf (FH).

 

Siegfried Hansen, Marco Larousse und Martin Waltz, drei Super-Männer, die das German Street Photography Festival ins Leben gerufen haben und auf der Photopia 2021 mit viel Mühe, Spaß und Leidenschaft geleitet haben (© Pia Parolin).
Photopia 2021
German Street Photography Festival 2021 (© Carsten Bruhn)
Pia Parolin ist Fotografin und Buchautorin. Sie hat mehrere Foto- und Textbücher herausgegeben, ist Mitglied der Deutschen Gesellschaft für Photographie (DGPh) sowie des Deutschen Fachjournalisten Verbandes (DFJV) und des Female Photo Club (Support Member). Ihr jüngstes Buch, „Mit offenen Augen – Die Wahrnehmungsschule für die Streetfotografie“, entstand in Zusammenarbeit mit Siegfried Hansen und wird vor Weihnachten 2021 erscheinen.