Betteln gibt es nicht
Jeder Tag muss neu gekämpft werden. Komme ich über die Runden? Schaffe ich den heutigen Tag? Für mich war und ist es faszinierend, immer wieder Menschen zu begegnen, die am Rande unserer Gesellschaft leben (müssen), die aber nicht betteln wollen sondern die lieber mit kleinen Geschäften, etwa als Zeitungsverkäufer, mit kreativen Ideen oder mit kleinen Bastelarbeiten bzw. Kunstwerken etwas Geld verdienen möchten. Sie haben den Glauben an sich und an die Gesellschaft noch nicht ganz aufgegeben und finden vielleicht eines Tages den Rückweg in die geregelte Arbeitswelt. Ihre Augen leuchteten stets, wenn wir uns über ihren “Job” unterhielten und es schwang eine Menge Stolz mit, wenn sie wieder etwas verkaufen konnten. In diesem Blog möchte ich einige dieser Menschen vorstellen, die meistens unglücklich den Anschluss an unsere Gesellschaft verloren haben, die aber nicht bettelnd jeden Tag “überleben” wollen sondern die als “Verkäufer” Geld verdienen möchten. “Es gibt mir sehr viel Zufriedenheit, wenn ich hier mit selbst verdientem Geld zu Rewe gehen kann” (O – Ton Dieter).
Alle hier vorgestellten Personen hatten sich gerne von mir fotografieren lassen. Sie waren stolz auf ihre kleinen Arbeiten, mit denen sie etwas Geld verdienen konnten und erzählten auch sehr gerne ihre Geschichten. Als lediglich flanierender Streetfotograf würde man aufregende Menschen mit ihren lehrreichen Geschichten verpassen und vielleicht auch nicht das “richtige” Foto machen. Sofern man sich im Bereich der “Sociodocumentary Street Photography” engagiert hat, gehören ausführliche Gespräche & Fotografie zusammen.
Dieter vagabundiert durch ganz Deutschland, von Kiel bis zum Bodensee und wieder zurück. Sein Terminkalender wird überwiegend von Stadtfesten bestimmt, die Hanse Sail in Rostock, die Cannstatter Wasen, das Oktoberfest in München, der Weihnachtsmarkt in Frankfurt etc. Überall verkauft er die lokalen Obdachlosenzeitungen. In Köln ist er übrigens sehr gerne. Seine Unterkunft sucht er sich bei Freunden, übernachtet aber auch im Freien, wenn Freunde nicht zur Verfügung stehen. Über 30 verschiedene Obdachlosenzeitungen in ganz Deutschland verkauft er im Laufe des Jahres. “Der Kölner Draussenseiter ist übrigens Spitze”. In Köln will er zur Zeit etwas gesundheitlich regenerieren bevor es wieder quer durch Deutschland geht.
Mutter Marita und Sohn Christian sind obdachlos. Seit einigen Jahren sind Mutter Marita und Sohn Christian auf der Straße angekommen. Persönliches Leid aber auch eigenes Verschulden, so Christian, hat beide an den Rand der Gesellschaft geführt. Ihre Suche nach einem “friedlichen Zuhause” begann im hohen Norden in Brunsbüttel, “dort gibt es eine große Chemiefirma”. Von dort ging es über die Stationen Hamburg, Gladbeck und Essen endlich nach Köln. Sie malen und zeichnen den ganzen Tag und wollen ihre kleinen Kunstwerke gerne an Passanten verkaufen. Auf dem Breslauer Platz hat man sie häufig beklaut und dann fehlten Taschen, Farbstifte und andere Malutensilien etc. Danach sind sie zum Musical Dome geflüchtet und haben sich dort häuslich eingerichtet. Hier sind sie weitgehend ungestört, es kommen aber kaum Passanten vorbei, die ihre Werke sehen und abkaufen wollen. Irgendwann wollen sie wieder auf den Breslauer Platz zurück, dort haben sie mehr Geld verdient. Über eine andere Stadt denken beide zur Zeit nicht nach. Köln gefällt ihn von allen bisherigen Städten besonders gut.
Mein hier gezeigtes Foto stammt vom Mai 2015. Nur sieben Monate später, am 20.12.2015, verstarb Christian in Essen, dort lebt seine Schwester. Er hatte seinem Körper zu viele Drogen zugemutet. Sein zeichnerisches Können und der Verkauf seiner Bilder hatten ihn nicht vor der mit Drogen motivierten Flucht aus seinem grausigen Alltag des Überlebens retten können.